Imitiertes Leben

Isabel Jacobs war sich nicht sicher. Alles, was sie seit der Ankunft von Kitty Finch tun konnte, um durch den Tag zu kommen, war, eine Person zu imitieren, die sie einmal gewesen war. Nur dass ihr diejenige, die sie einmal gewesen war, nicht mehr nachahmenswert erschien. Sie wusste nicht mehr, welche Gefühle etwas bei ihr auslöste, woher diese Gefühle kamen, oder warum sie einer Fremden das freie Zimmer angeboten hatte. Sie stand mitten im Leben, war fast 50 Jahre alt und hatte durch ihre Arbeit als Kriegsberichterstatterin zahllose Massaker und Konflikte erlebt, die ihr das Leid auf der Welt hautnah vor Augen geführt hatten. Sie war zu tief in das Unglück dieser Welt eingetaucht, als dass sie noch einmal von vorne anfangen könnte. Wenn sie die Wahl hätte, all das wieder zu vergessen, was sie eigentlich hätte weise machen sollen, dann würde sie noch einmal ganz von vorne anfangen. Sie würde noch einmal heiraten und noch einmal ein Kind bekommen und mit ihrem gut aussehenden
jungen Mann abends am Strand Bier trinken. Sie wären noch einmal bezauberte Anfänger, die sich unter dem strahlenden Sternenhimmel küssen. In ihrem Haus in London war sie eine Art Gespenst. Wenn sie aus irgendeinem Kriegsgebiet zurückkehrte und feststellte, dass in ihrer Abwesenheit die Schuhcreme
oder die Glühbirnen einen neuen Aufbewahrungsort erhalten hatten, in der Nähe, aber eben nicht genau dort, wo sie sonst immer gewesen waren, dann wurde ihr klar, dass auch sie keinen festen Platz im Haus der Familie hatte. Um das zu tun, was sie sich in diesem Leben vorgenommen hatte, riskierte sie es, ihren Platz als Ehefrau und Mutter zu verwirken – ein verwirrender Platz, an dem ihr all die Erwartungen im Nacken saßen, die an einen gestellt wurden, wenn man sich für ihn entschied. Sie hatte versucht, etwas zu sein, was sie nicht ganz begreifen konnte. Eine starke und doch zerbrechliche Frauengestalt. Sie wusste zwar, dass Stärke nicht dasselbe war wie Durchsetzungsfähigkeit und Zerbrechlichkeit nicht dasselbe wie Einfühlsamkeit, aber sie wusste nicht, wie sie dieses Wissen für ihr eigenes Leben fruchtbar machen könnte.