Ich kann dich hören
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Osman spielt. Er soll es regnen lassen, doch seine Musik lässt sich nicht erweichen. Und daran ist sein Vater nicht allein schuld. Sehr vieles gerät erst in Bewegung, als er hört, was nicht für seine Ohren bestimmt war.
Ein schalldichter Raum. Draußen die Großstadt. Osman Engels übt Cello. Er spielt an gegen unsichtbare Hindernisse, die irgendwo in seiner Vergangenheit liegen und denen er auf dem Fußballfeld besser ausweichen kann. In seiner Welt ersetzt Musik schon lange die Worte. Er kann selbst nicht gut zuhören, nichts festhalten, ohne Kontaktlinsen auch schlecht sehen.
Als er ein zufällig gefundenes Aufnahmegerät abhört, wird er zum Ohrenzeugen einer Beziehung, die auf ganz andere Art laut ist. Seine Mitbewohnerin Luise lernt derweil im Nebenzimmer für ihre Prüfung, manchmal rauchen sie gemeinsam am offenen Fenster, kochen Knoblauchnudeln, bringen Altglas zum Container. Sie verstehen sich, ohne sich richtig anzufassen, denn auch mit der Liebe fangen sie gerade erst an.
Als sein türkischer Vater, ebenfalls Musiker, sich das Handgelenk bricht und Tante Elide, seine Ziehmutter, nach fast zwanzig Jahren in Deutschland plötzlich nach Paris gehen will, ist Osman gezwungen, ein paar Dinge aufzuräumen, ein paar Fragen zu stellen.
Der Roman erzählt von einem jungen Mann, dem Augen und Ohren geöffnet werden, und von einer Frau, die in der Stille lebt. Es geht um Vater-, Mutter- und Gebärdensprache und um die berührende Kraft von Musik. Ungewöhnliche Themen, eindringliche Bilder. Ein großes Talent.
© Maïscha Souaga
Katharina Mevissen
Katharina Mevissen, geboren 1991, studierte Kulturwissenschaft und Transnationale Literaturwissenschaft und lebt als Autorin in Berlin. Ihr Romandebüt »Ich kann dich hören« gewann den Kranichsteiner Literaturförderpreis und wurde 2021 vom Westdeutschen Rundfunk als Hörspiel adaptiert. Sie ist Mitherausgeberin der Publikation »Gesammeltes Schweigen« in der Edition Zweifel. Aktuell forscht sie an der Freien Universität Berlin zu Mündlichkeit und Literatur. "Mutters Stimmbruch" wurde mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2024 sowie dem Meersburger Droste-Förderpreis ausgezeichnet.
Leseprobe
Im Alsterpark haben die Leute mit dem Sommer angefangen. Liegen in Gruppen, in Paaren und einzeln unter den Bäumen, dazwischen streunen Touristen und Hunde. Ich sollte jetzt rein. Als ich durch den Innenhof des alten Campus gehe, steht da nur Yoko mit versunkenem Blick und bemerkt mich nicht. Sie trinkt aus einer großen Mineralwasserflasche, geht vor und zurück, auf und ab. Mit keiner Bewegung verlässt sie dabei den Schatten, den das Gebäude in die Junisonne schneidet.
Der Himmel ist blau und die Luft warm, das Licht fällt in den Hof des Palais, Sträucher und Bäume blühen. Es gibt Stimmen von Vögeln und von Menschen, die gut gekleidet und nur leicht verschwitzt hier eintreffen, um einem Konzert klassischer Musik zu lauschen. Die Friedlichkeit ist absurd und das Idyll beklemmend. Die Kulisse betäubt mich, ich fühle mich wie überzuckert. Es muss hier irgendwo eine raue, kratzende, schürfende Oberfläche geben, an der ich mich reiben kann, die Widerstand erzeugt oder Schmerz, an der man sich verbrennt, die einen frieren lässt. Etwas Scharfkantiges, Bitteres, Dreckiges, ein Geräusch, ein Anblick, ein fieser Geschmack. Irgendwas, das gegen diese Süße ankommen kann, gegen diese Makellosigkeit. Ich drücke die Kippe aus. Jetzt muss ich wirklich rein.
Die Abendsonne hat den Saal noch immer nicht verlassen. Sie leuchtet durch das Blattwerk der Kastanie und zeichnet auf das Parkett Felder aus Licht, von schmalen Schattenstreifen unterteilt. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als meinen Stuhl in einem der Felder zu platzieren. Ich kann dieses Licht kaum ertragen, das mir in den Rücken fällt und die ganze Szene viel zu schön macht und auch zu heiß. Eigentlich ist es nicht auszuhalten.
Ich schwitze unter dem schwarzen Hemd, unter den Achseln, am Rücken und zwischen den Fingern, schon als ich nachstimme. Auch an der Musik kann man hören, dass es zu warm ist. Man hört sie schwitzen. Die Töne sind dann schmierig und feucht, die Finger sitzen nicht fest auf den Saiten, und das Holz des Instruments wird großporig und quillt auf.
Der Applaus ebbt ab. Ich schiele an die Decke, genau über mir hängt einer dieser gefährlichen Engel. Wir müssen trotzdem beginnen. Philipp sitzt hinter mir am Klavier, um mich zu begleiten, aber das Licht blendet und unterbindet jeden eindeutigen Blickkontakt. Zumindest hören wir uns. Und fangen an.