Kreise ziehen

Kreise ziehen

Aus dem kanadischen Englisch von Nina Frey

Quartbuch. 30.5.2019
336 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag
Buch 24,– € / E-Book 19,99 €
ISBN 978-3-8031-3310-6
vergriffen
als ePub kaufen (19,99 €)

Ein Sturm zieht auf. Die Naturgewalten brechen sich Bahn. Danach ist nichts mehr, wie es war. Aber nicht nur die äußeren Katastrophen, auch die eigenen, oft kleinen Entscheidungen bestimmen manchmal über ein ganzes Leben. Und das der folgenden Generationen.

Bangladesch, 1970. Honufa sammelt ihre Habseligkeiten zusammen. Sie sucht einen verhängnisvollen Brief. Sie schickt ihren kleinen Sohn in Sicherheit. Sie bangt um ihren Mann auf See. Sie bittet den falschen Gott um Hilfe.

Washington, D.C., 2004. An einem stürmischen Abend bringt Shahryar seine sechsjährige Tochter Anna in ihr Zuhause, das nie seins war. Er wird das Land bald verlassen müssen. Vermachen kann er ihr nur die Erinnerungen an seine Heimat, seine Geschichte und an die Menschen, die er immer für seine Eltern hielt.

Arif Anwar verwebt die Geschichten verschiedener Personen, die sich über mehrere Generationen, Kontinente und Jahrzehnte spannen und doch alle zusammenhängen. Vermeintliche Gewissheiten werden in Frage gestellt, während sich immer neue Rätsel auflösen. Anwars Saga erzählt, wie die Vergangenheit die Gegenwart formt, wie zählebig religiöse Feindschaft sein kann und wie wirkmächtig das koloniale Erbe ist. Vor allem aber hat Anwar einen eindrucksvollen Roman über Versöhnung geschrieben, darüber, wie Menschen einander helfen und wie man seine Familie findet, unabhängig davon, ob man tatsächlich verwandt ist.

Arif Anwar

© Michael Tan

Arif Anwar

Arif Anwar, geboren in Chittagong (Bangladesch), hat für verschiedene NGOs gearbeitet, unter anderem für UNICEF Myanmar. Er hat in Toronto promoviert, wo er auch heute noch lebt. »Kreise ziehen« ist sein Debütroman.

»Arif Anwars Roman hat die epische Qualität von Hosseinis ›Drachenläufer‹. Ein Buch, das provoziert und zugleich inspiriert.« Book Page

»Ein generationsübergreifender Roman, der Themen wie Kolonialismus und Migration aufgreift und seine Leser tief berührt.« Toronto Star

Leseprobe

Honufa setzt sich im Bett auf. Am Fensterbrett sitzt eine Glanzkrähe. Eine dunkle Ahnung beschleicht sie wie ein lautloses, hungriges Raubtier.

Die Holzpritsche, auf der sie schlafen, hat ihr Vater gebaut, ihr vermacht als widerwillige Abschiedsgabe anlässlich ihrer Heirat mit Jamir. Gerade schläft dort ihr dreijähriger Sohn. Die Seite Jamirs ist leer. Es ist das erste Mal, dass er ohne Abschied aufs Meer gefahren ist.

Sie wäscht ihr Gesicht mit Wasser aus einem Tonkrug, beginnt mit dem Haushalt und geht dann im nahen Wald Feuerholz sammeln, klaubt verstreute Äste vom Boden. Mit Jutestricken verschnürt trägt Honufa sie auf ihrem Kopf zur Hütte zurück.

Drei Jahrzehnte harten Lebens haben ihr die weibliche Weichheit aus dem Gesicht geschliffen, die Falten um ihre Augen tief eingegraben, die Lippen schmaler werden lassen und dem Kiefer etwas Kantiges, Männliches verliehen: Schön ist Honufa nicht, doch sie ist stark, und mit fast ein Meter siebzig überragt sie alle anderen Frauen des Küstendorfs. Ihre Schultern sind breit, ihre Hände schwielig von den vielen Tauen und Netzen, die hindurchgewandert sind über die Jahre, von den Bergen von Kokosnüssen, die sie geschält hat.

Die Länge der Baumschatten und der Stand der Sonne weisen ihr die Stunde, sagen ihr, dass es nun Zeit ist, den Dorfbrunnen aufzusuchen, um Wasser zu schöpfen, eine Handlung, die in Einsamkeit zu verrichten sie sich abgefunden hat. Die ersten Jahre noch hatte sie die Hoffnung gehabt, die Last der prüfenden Blicke, der Stachel des Urteils der anderen ließen sich allmählich leichter ertragen. Doch sie erfüllte sich nicht.

Unterwegs bleibt sie stehen. Zu einer Stunde, da der Strand sonst wie ausgestorben ist, brodelt er vor Betriebsamkeit. Das ganze Dorf ist hier versammelt, der graue Sand von über hundert Füßen zu Gipfeln und Tälern gewühlt. Männer und Frauen, sehnig, braun von der Sonne, ziehen Boote an Land und knoten sie fest an die Bäume, holen Netze ein, falten sie. Ein Sturm zieht auf.

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