Alle unsere Gestern
Von Maja Pflug durchgesehene Übersetzung aus dem Italienischen
Niemand vermag so scheinbar unbeteiligt und hellsichtig den Beziehungen zwischen Menschen nachzugehen wie Natalia Ginzburg: in der Familie, zwischen Mann und Frau, zu Freunden – und so beinahe weise eine Erzählung hinter der Geschichte auszubreiten.
Keiner nimmt Anna, die Jüngste der Familie, ernst: weder die beiden älteren Brüder, die sich mit Freunden im Wohnzimmer einschließen, um zu diskutieren, noch die Schwester Concettina, die vor allem ihre zahlreichen Verlobten im Kopf hat. Auch Signora Maria, die Haushälterin mit den winzigen Schleifenschühchen, kümmert sich mehr um die Rosen als um das Mädchen.
Nur der ein bisschen großmäulige Nachbarjunge Giuma gibt sich mit Anna ab. Sie gehen miteinander spazieren, dann ins ›Pariser Café‹ und später in die Büsche am Fluss.
Als einer der Freunde verhaftet wird, müssen die Broschüren gegen Mussolini eilig im Kamin verbrannt werden. Italien tritt in den Krieg ein, der älteste Bruder, ein überzeugter Pazifist, soll eingezogen werden. Concettina verliebt sich in ein Schwarzhemd – und Anna wird schwanger.
Natalia Ginzburg erzählt von den kleinen wie großen Ereignissen genau und fast beiläufig: Was, wenn es keinen Stoff für Kleider gibt, und was, wenn man einen Juden in der Familie hat? Bereits hier hat sie den unnachahmlichen Ton des »Familienlexikon« gefunden.
© Verlag Klaus Wagenbach
Natalia Ginzburg
Natalia Ginzburg, 1916 in Palermo geboren, verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Turin. 1938 heiratete sie den Slawisten Leone Ginzburg, der 1944 in einem römischen Gefängnis von deutschen Soldaten ermordet wurde. Nach dem Krieg lebte Ginzburg in Turin, ab 1952 mit ihrem zweiten Mann, dem Anglistik-Professor Gabriele Baldini, in Rom. Beinahe Zeit ihres Lebens arbeitete sie für den Einaudi Verlag. Ab 1983 war sie unabhängige Parlamentsabgeordnete. Sie zog vier Kinder groß. 1991 starb Natalia Ginzburg in Rom. Ihr Werk umfasst Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Essays.
»Natalia Ginzburg schenkt uns ein neues Vorbild für die weibliche Stimme und eine Idee davon, wie sie klingen könnte.« Rachel Cusk
»Es ist, als ob Ginzburgs Schreiben ein Geheimnis wäre, das ich schon mein ganzes Leben lang enthüllen wollte. Ihre Worte scheinen etwas absolut Wahres über meine eigenen Erfahrungen und über Leben überhaupt auszudrücken.« Sally Rooney
»Natalia Ginzburg schreibt trügerisch einfach und sehr komplex. Die Wirkung ist beruhigend und aufregend zugleich – das hinzukriegen ist wirklich eine Kunst.« Deborah Levy