Die Armenierfrage in der Türkei
Politik bei Wagenbach. Originalausgabe
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Die Vergangenheit kehrt zurück. Die armenische Frage steht im Zentrum der Identitätssuche einer demokratischpluralistischen Türkei: Was geschah 1915? Die notwendige »Umsiedlung« einer Bevölkerungsgruppe oder gezielte Massentötung und vertreibung? Beharrlich erkundet eine neue türkische Zivilgesellschaft ihre verdrängte und vergessene Geschichte.
Die offizielle Geschichtsschreibung der Türkischen Republik kennt keinen Völkermord an den Armeniern. Die »Umsiedlungen« gelten als unschöne, aber unabwendbare Folge des Ersten Weltkrieges. Die Entdeckung der Erinnerung hat jetzt Bewegung in die öffentliche Diskussion gebracht: Die Generation der Enkel beginnt, von den Großeltern zu erzählen.
Diese Geschichten handeln vom Weiterleben nach dem Untergang des Vielvölkerreichs, von Leid, Schweigen und Verwüstung. Sie rufen Anteilnahme, nicht aber ideologische Abwehrreflexe hervor. Viele in der Türkei haben sich inzwischen aufgemacht, die Vergangenheit mit anderen Augen zu erkunden – mit ihren Erkenntnissen sind sie eine Provokation für die Hüter der offiziellen Doktrin.
Mit großer Sachkenntnis und Sorgfalt fasst Sibylle Thelen den Stand der Forschung zu den Ereignissen von 1915 zusammen, geht der Tradition des Vergessens und Verdrängens nach und erzählt mit Empathie vom Aufbruch der Bürger in die Vergangenheit. Vom Umgang mit dieser Vergangenheit wird die demokratischpluralistische Entwicklung der Türkei und ihr Verhältnis zu Europa abhängen.
Sibylle Thelen
Sibylle Thelen, geboren 1962, studierte Politik, Turkologie und Kommunikationswissenschaften in München. 2008 erschien ihr Buch Istanbul – Stadt unter Strom. Gesichter der neuen Türkei. Sie war leitende Redakteurin der Wochenendbeilage der Stuttgarter Zeitung und arbeitet jetzt bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
Pressestimmen
Als 2007 in Istanbul der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink, eine Symbolfigur für die Annäherung der Völker, von einem Nationalisten ermordet wurde, zeigte sich die Regierung in Ankara zwar schockiert – geändert hat dies aber nichts an der unsinnigen Politik der Verleugnung des Genozids. Eine Begegnung mit Hrant Dink setzt Sybille Thelen an den Anfang ihres Buches.
Der schmale Band will keine neuen Fakten ausbreiten. Das ist auch nicht nötig, die Vorgänge sind weitgehend erforscht. Die Autorin interessiert viel mehr, wie die Türkei mit der Katastrophe umgeht. ‚Bekenntnistreue oder Schweigen – lange gab es an türkischen Hochschulen nur diese Alternative', schreibt die Turkologin Thelen. Das starre System wurde aber zuletzt durch das Erzählen und Erinnern gebrochen. Am Ende plädiert Thelen dafür, den Türken bei dem notwendigen Lernprozess, der da heißt ‚Vergangenheitsbewältigung', zu helfen.
Christiane Schlötzer, Süddeutsche Zeitung
Ein schmales Bändchen. Und doch ein wichtiges, ein sympathisches, ein gut informiertes Buch. Sibylle Thelens Die Armenierfrage in der Türkei kommt zudem zum rechten Zeitpunkt. Wieso die Bewertung der Ereignisse immer noch so schwierig ist, darauf versucht Thelen eine Antwort zu geben. Sie ist Journalistin, aber auch studierte Politikwissenschaftlerin und Turkologin. Kurz gesagt, sie kennt sich aus und kann zudem erzählen und formulieren.
Ihr eigentliches Thema aber ist der Umgang der modernen Türkei mit ihrer problematischen Vergangenheit.
Ihre größte Hoffnung in diesem Kampf zwischen den Beharrungskräften und denen des Wandels sieht sie in der immer selbstbewusster werdenden türkischen Zivilgesellschaft. Dieses neu erwachte Interesse an der eigenen Vergangenheit ist in der Tat für jeden, der es in den letzten Jahren beobachtet hat, eine erstaunliche Angelegenheit. Und am Ende wahrscheinlich eine nachhaltigere als jede offizielle Resolution, deren Berechtigung damit nicht bestritten werden soll. Aber, so Thelen: ‚Geschichte kann den Menschen nicht nur verkündet werden.'
Ein sehr anregendes Buch zu einem wichtigen Thema. Also bitte: lesen!
Rolf Hosfeld, Deutschlandradio Kultur
Am 24. April 1915 wurden zunächst Istanbuls armenische Intellektuelle verhaftet. Dies war der Auftakt zu den Massendeportationen und Todesmärschen, an deren Ende nach Schätzungen eine Million tote Armenier zu beklagen waren. Bis heute verwahrt sich die Türkei dagegen, dass diese ‚Ereignisse' Völkermord (soykirim) genannt werden.
Erst allmählich, so beschreibt es Sibylle Thelen in dem schmalen Bändchen, beginnt sich der Tabuknoten zu lösen, der auch mit dem Gründungsmythos der Republik zu tun hat, als sich die geschlagene und beinahe zerschlagene Türkei wie der Phönix aus der Asche unter Mustafa Kemal Pascha ‚Atatürk' siegreich erhob. Das Vergessen der Ereignisse bisher weicht langsam einem Bewusstwerdung in Teilen der Bevölkerung, weniger durch offenes Benennen - da winkte im Zweifel bis vor kurzem noch immer der Staatsanwalt wie im Falle des Autors Orhan Pamuk - als durch das Bekanntwerden alter Berichte, Bilder und Erzählungen in den Familien. Da erweist sich die Großmutter namens Fatma plötzlich als Armenierin, die damals mit dem Leben davonkam und zur Muslima bekehrt wurde. Die Autorin will ‚nicht anklagen, schon gar nicht verurteilen', sondern dialogfördernd über die Empfindlichkeiten auf beiden Seiten aufklären.
Wolfgang Günther Lerch, Frankfurter Allgemeine Zeitung